Bucklige Verwandtschaft
Genomische Studie verdeutlicht die Vielfalt der weltweit verbreiteten Braunbären
Braunbären zählen zu den größten an Land lebenden Raubtieren der Welt. Charakteristisch ist ihr muskulöser Buckel über den Schultern, der den Vorderbeinen zusätzliche Kraft verleiht. Die etwa zehn derzeit identifizierten Braunbären-Unterarten sind in Nordamerika, Europa, Russland und Asien verbreitet. Dabei weisen sie große Unterschiede hinsichtlich ihrer Gestalt, ihrer Lebensräume und ihres Verhaltens auf. Ein internationales Team von Forschenden, darunter vier Wissenschaftler aus Frankfurt am Main, untersuchten in einer in der Nature-Fachzeitschrift „Communications Biology“ veröffentlichten Studie, wie und wann ihre genetische Vielfalt entstanden ist. Damit stellen sie die erste umfassende populationsgenomische Studie am Braunbären (Ursus arctos) vor und zeigen an seinem Beispiel die Auswirkungen der letzten Eiszeit auf die heutige Vielfalt innerhalb der Art.
Der nordamerikanische Grizzly ist wohl die bekannteste Unterart – doch Braunbären sind auch auf dem eurasischen Kontinent heimisch, wo sie als Lebensraum (Berg-)Wälder bevorzugen. Ihr Bestand wird weltweit auf etwa 200.000 Tiere geschätzt, von denen vermutlich mehr als die Hälfte in Russland beheimatet ist. Nachdem Braunbären im Mittelalter noch auf dem gesamten europäischen Festland verbreitet waren, beläuft sich ihre Zahl hier auf noch etwa 17.000 Tiere. Die Zerstörung ihres Lebensraums, Wilderei und fehlende Akzeptanz trugen zu dieser Dezimierung bei. Während sie in Deutschland als ausgestorben gelten – abgesehen von einzelnen zugewanderten Tieren wie „Bruno“ im Jahr 2006 –, sind sie weltweit von der Weltnaturschutzunion IUCN (International Union for Conservation of Nature and Natural Resources) als nicht gefährdet eingestuft.
Für den Vergleich der Braunbären-Unterarten untersuchten die Wissenschaftler die Genome von 128 Braunbären aus dem gesamten Verbreitungsgebiet. 95 dieser Genome wurden dabei extra für diese Studie entschlüsselt. Ziel war es, mit neuen genomischen Analysemethoden frühere Erkenntnisse zu Ähnlichkeiten und Unterschieden der verschiedenen Populationen zu überprüfen und offene Fragen zu beantworten. Dazu zählt auch, welche erdgeschichtlichen Entwicklungen zur heutigen Verbreitung und den jeweiligen genomischen Merkmalen geführt haben.
„Um einen umfassenden Überblick über die Populationsstruktur und genetische Vielfalt von Braunbären zu erhalten, haben wir Bereiche der Genome mit verschiedenen Vererbungseigenschaften untersucht und verglichen, darunter X- oder Y-Chromosomen von weiblichen und männlichen Individuen. Dies ermöglicht uns neue, differenziertere Einblicke als die Analyse des gesamten Genoms als einer Einheit. Wir fanden heraus, dass die Populationsstruktur, die sich aus unseren genetischen Daten ergibt, zwar weitgehend mit der derzeitigen Einteilung der Unterarten übereinstimmt – jedoch nicht vollständig“, erklärt Dr. Menno de Jong, Erstautor der Studie und Wissenschaftler am Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum.
So werden beispielsweise Braunbären in ganz Europa und Westrussland, einschließlich der Bären im Uralgebirge und sogar in Westsibirien, derzeit als eine Unterart betrachtet, die als Eurasischer Braunbär (Ursus arctos arctos) bekannt ist. Die genetischen Analysen stützen diese Unterteilung und bestätigen, dass trotz der großen geografischen Ausdehnung alle Bären dieser Regionen tatsächlich zu demselben genetischen Cluster gehören.
Bei den nordamerikanischen Braunbären stießen die Forschenden jedoch auf eine Besonderheit, die nicht der aktuellen Zuordnung entspricht. Abgesehen vom riesigen Kodiakbären (Ursus arctos middendorffi), der auf der Insel Kodiak vor der Küste Südwestalaskas heimisch ist, werden derzeit alle anderen Bären Nordamerikas zur Unterart des Grizzlybären (Ursus arctos horribilis) gezählt. Der im Südwesten Alaskas beheimatete Alaska-Halbinsel-Braunbär, der schon einmal als eigene Unterart (Ursus arctos gyas) anerkannt war, unterscheidet sich laut der neuen Analyse jedoch deutlich von anderen Grizzlybären und ähnelt eher dem Kodiakbären. „Eine mögliche Interpretation ist, dass die Unterart der Alaska-Halbinsel-Braunbären wieder berücksichtigt werden muss. Eine andere Deutung ist, dass die Braunbären der Alaska-Halbinsel und die Kodiakbären eine Festland- und eine Inselpopulation derselben Unterart darstellen“, so de Jong.
Die Forschenden konnten auch feststellen, dass die Alaska-Halbinsel-Braunbären vom gleichen Vorfahren wie der Kamtschatka-Bär (Ursus arctos beringianus) abstammen, was auf die geografischen Bedingungen während der letzten Eiszeit zurückzuführen ist: Die russische Fernost-Halbinsel Kamtschatka und Alaska waren bis vor etwa 11.000 Jahren, als der globale Meeresspiegel viel niedriger lag als heute, durch die Landbrücke der damals trocken liegenden Beringstraße verbunden. Zur gleichen Zeit war Alaska vom amerikanischen Kontinent durch riesige Eisschilde getrennt, die das gesamte heutige Kanada bedeckten. Mit dem Anstieg der globalen Temperaturen und der Trennung durch die Beringstraße änderten sich die Möglichkeiten zur Vermischung oder Isolation der Arten wieder.
„Es mutet utopisch an, dass wir diese uralten Wanderbewegungen aus den genomischen Daten herauslesen können, um zu verstehen, wie sich die letzte Eiszeit auf Arten ausgewirkt hat. Bisherige Methoden und Interpretationen müssen aufgrund der neuen Erkenntnisse überdacht werden“, führt Studienleiter Axel Janke aus, Professor für Vergleichende Genomik bei Senckenberg und an der Frankfurter Goethe-Universität sowie am hessischen LOEWE-Zentrum für Translationale Biodiversitätsgenomik (LOEWE-TBG). „Genomische Analysen von Lebewesen, wie wir sie bei LOEWE-TBG vornehmen, geben unglaublich detaillierte, neue Einblicke in die Biodiversität unseres Planeten und ihrer Entstehungsgeschichte preis. Die Genomik steht erst am Anfang, zeigt sich jedoch bereits heute als Zukunftstechnologie, um das Leben vollständig zu verstehen“, so Janke weiter. Der Ansatz der Studie, die demografische Entwicklung der Braunbären zu entschlüsseln, kann als Vorlage für die Untersuchung und das bessere Verständnis der Geschichte vieler weiterer Arten dienen.
Publikation in Communications Biology: Menno J. de Jong, Aidin Niamir, Magnus Wolf, Andrew C. Kitchener, Nicolas Lecomte, Ivan V. Seryodkin, Steven R. Fain, Snorre B. Hagen, Urmas Saarma, Axel Janke
Range-wide whole-genome resequencing of the brown bear reveals drivers of intraspecies divergence
https://doi.org/10.1038/s42003-023-04514-w